Gut Gebrüllt: Barbara Fickert – Die Kinoblindgängerin

© Barbara Fickert

Barbara Fickert ist Filmkritikerin und Produzentin. Das Besondere: Barbara ist so gut wie blind, deshalb heißt ihr Projekt auch Kinoblindgänger. Ich habe Barbara Ende des vergangenen Jahres kennengelernt und war sofort von ihr fasziniert. Inzwischen haben wir uns mehrfach persönlich getroffen und unter anderem auch ein unglaublich spannendes Interview geführt. Barbara erzählt nicht nur von den Problemen des Hörfilms in Deutschland und ihrem eigenen Einsatz für mehr Audiodeskriptionen, sondern auch die ganz persönliche Geschichte einer sehbehinderten Frau* und ihrer Liebe zum Kino – im Grunde eine Geschichte über die Bedeutung von Inklusion.

Sophie: Du bist eine echte Filmlöwin, also Aktivistin, und zwar für den Hörfilm. Warum?

Barbara: Seit 2014 müssen Filme, die deutsche Fördergelder bekommen, auch eine barrierefreie Fassung, also Audiodeskription und Untertitel haben. Sonst bekommen sie keine Fördergelder von der FFA. Und der deutsche Filmförderfond hat eine ähnliche Vorschrift. Das heißt, man kann davon ausgehen, dass alle Filme, die in Deutschland produziert werden, weil die ja eigentlich alle Förderung bekommen, eine barrierefreie Fassung haben. Das ist schon mal schön.

Aber?

Aber damals hat sich keiner Gedanken gemacht, wie die denn überhaupt in unser Ohr oder für die Gehörlosen vors Auge kommt, denn es gibt kaum Kinos, die entsprechend ausgerüstet sind.

© Greta & Starks

Und wie funktioniert das nun?

Etwa 2013 hat sich die App Greta & Starks entwickelt (Anm.d.Red: Greta & Starks ist eine Handy-App, die kostenlos Audiodeskriptionen und Untertitel zum Download zur Verfügung stellt, die sich jeweils automatisch mit dem entsprechenden Film synchronisieren). Die haben zu den Verleihern gesagt: „Hört mal zu: Die Kinos sind nicht alle entsprechend ausgerüstet und wenn ihr wollt, dass eure Audiodeskription auch gehört wird, dann stellen wir die für 1000 bis 1500 Euro auf unserem Server bereit und jeder Blinde, der die App runtergeladen hat, kann damit in jedes Kino.

“Von den etwa 4700 Kinoleinwänden in Deutschland sind etwa 30 barrierefrei. Das bringt eigentlich gar nichts.“

Was heißt „die Kinos sind nicht entsprechend ausgerüstet“? Gibt es eine Alternative zur App?

Im Filmförderungsgesetz war zu dieser Zeit schon geregelt, dass – wenn Kinos sich mit einer entsprechenden Technik ausrüsten – sie dafür 50% Zuschuss von der FFA bekommen. Es gibt zwei Techniken, mit denen sich die Kinos ausrüsten können. Bei Doremi ist man pro Kinosaal bei ungefähr 8000 Euro, glaube ich. Und die Technik von Sennheiser kostet etwa 5000 Euro pro Kinosaal.

© Barbara Fickert

Das ist ja irre teuer. Warum fördert die FFA lieber die teure Umrüstung der Kinos als die App Greta & Starks?

Ich glaube, sie haben Bedenken bezüglich der Nachhaltigkeit. Sie wollen lieber, dass die Kinos ausgerüstet sind. Bei der App muss der Verleiher natürlich für jeden Film neu die Gebühr bezahlen. Allerdings erreichst du mit diesen 1000 Euro schlagartig alle, die sich für den Film interessieren. Von den etwa 4700 Kinoleinwänden in Deutschland sind etwa 30 barrierefrei. Das bringt eigentlich gar nichts. Du musst ja immer das Glück haben, dass in dem einen ausgerüsteten Kino genau der Film läuft, den du sehen willst.

Es müssten also alle Kinos ausgerüstet werden.

Ja, aber das nächste Problem, das noch nie einer angepackt hat, ist: Wenn jetzt von heute auf morgen alle Kinos ausgerüstet sind, können wir trotzdem gerade mal ein gutes Drittel der Filme überhaupt gucken beziehungsweise hören. Wir hatten letztes Jahr 244 deutschgeförderte Filme und 310 internationale Filme. Und für die internationalen gibt es oft keine Audiodeskription und keine Untertitel, weil die das nicht müssen! Das heißt also, wir haben ausgerüstete Kinos und können gerade mal ein Drittel der Filme überhaupt erleben.

„… mal eben 8000 Euro für eine barrierefreie Fassung“

Gibt es denn überhaupt keine internationalen Hörfilme?

Doch. Greta & Starks haben von Anfang an auch versucht, die internationalen Filme beziehungsweise die Verleiher mit ins Boot zu holen. Und Universal Deutschland macht von Anfang an, so lange es die App gibt, alle ihre Filme barrierefrei, obwohl sie es nicht müssen. Disney legt gerade nach. Die haben letztes Jahr im Oktober angefangen.

Du machst ja selbst auch Hörfilme. Wie genau funktioniert das?

Meine Kollegin Lena Hoffmann und ich gucken die Kinostarts durch und zwar nicht die von den Majors – die können sich selbst um eine Audiodeskription kümmern – sondern von unabhängigen Verleihern, die das nicht können. Die haben mit der Erstellung der Synchro schon mordsmäßig Gelder und überhaupt ein großes Risiko, weil sie keine Verleihförderung bekommen. Die können nicht mal eben 8000 Euro für eine barrierefreie Fassung aufbringen. Wir erstellen dann eine Audiodeskription und die Untertitel. Und die werden natürlich beide über die App Greta & Starks zugänglich gemacht.

© Kinoblindgänger

Und wie macht ihr das? Wie läuft das ab?

Inga Henkel, mit der ich zusammenarbeite, macht den Text und dann sprechen wir das durch. Sie liest mir den Text in die Dialogpausen ein und ich sage, ob ich es verstehe oder nicht. Anschließend überlegen wir zusammen: Nehmen wir eine Sprecherin oder einen Sprecher? Was sollte der oder die für eine Stimme haben? Älter, jünger, und so weiter. Und schließlich wird das bei Speaker Search im Tonstudio eingesprochen und so aufbereitet, dass die App Greta & Starks die Datei auf ihren Server packen kann.

Welche Filme hast Du denn schon barrierefrei gemacht?

Der erste Film war Welcome to Norway. Der lief letztes Jahr im Oktober. Der zweite Film ist leider im Kino gefloppt. Das war Eine schöne Bescherung, eine schwedische Weihnachtskomödie. Der dritte war jetzt Mein Leben als Zucchini. Und der nächste Film am 11. Mai wird sein: Ein Tag wie kein anderer von Temperclay.

„Ich habe mal so vielleicht 7% gucken können. Das ist verdammt viel gegen nichts.“

Ich find es spannend, dass du oft davon sprichst einen Film zu „gucken“…

(lacht) Manchmal sagen Leute „Wir sehen uns… oh, was hab ich denn jetzt gesagt?“ Das find ich furchtbar. Die Leute sollen so quatschen, wie es ihnen in den Sinn kommt. Unverkrampft und wenn dann mal was schiefläuft, ist mir das egal.

Filme „sehen“ ist ja auch ein fester Ausdruck irgendwie.

Genau. Ich bin so aufgewachsen. Ich hab ja auch früher was sehen können auf der Leinwand.

© UIP

Wie lange ist das her?

Ich mach das immer an dem Film Shakespeare in Love fest, der lief so 2000 ungefähr. Und da haben wir in der ersten Reihe gesessen, weil wir zu spät waren und das Kino schon voll. Jürgen, mein Lebensgefährte, ist beinahe irre geworden und ich fand’s toll. Ich kann mich noch genau erinnern, wie die auf der Themse gerudert sind und im Hintergrund die alten Gemäuer. Ich hab bestimmt nicht erkennen können, ob die jetzt ein kurzärmliges Hemd tragen und wie die Frisuren waren. Aber ich hab noch so einen Eindruck mitbekommen.

Also konntest Du damals noch einiges sehen.

Ich habe mal so vielleicht 7% gucken können. Das ist verdammt viel gegen nichts. Ich bin geritten, ich bin Ski gelaufen, ich bin Fahrrad gefahren. Ich bin durch den Wald gejoggt alleine. Ich bin auch Mofa gefahren ganz kurz, aber dann hab ich mal hinter mir ein Auto ganz fürchterlich bremsen hören. Da dachte ich: Das lässt du jetzt sein.

Barbara mit ihrem Gitarrenensemble © Barbara Fickert

Bist Du auf eine Blindenschule gegangen?

Ich war an der Grundschule für Sehbehinderte und das war ganz furchtbar. Gelernt hab ich da nix. Nach dem vierten Grundschuljahr habe ich den Absprung ins Gymnasium geschafft, ein ganz normales. Und da hab ich auch mein Abitur gemacht. Ich hatte meine dicken fetten Lupen und eine normale Brille und hab mit dem Fernrohr an die Tafel geguckt.

Und nach dem Abi?

… habe ich Jura studiert. Da hatte ich aber ein besseres System. Im normalen Brillenglas war so ein kleines Fernrohr eingebaut und damit konnte ich in einem bestimmten Abstand lesen, hatte aber immer nur vier Buchstaben. Das hat einen Vorteil: Wenig lesen und das gründlich, das bringt auch ne Menge. Da kommt man auch recht weit. Die anderen haben nur gelesen und gelesen und gelesen und konnten sich das aber nicht merken. Und ich hab nur ein Fünftel geschafft, aber das war dann drin in der Birne.

„Die riesen Leinwand fand ich toll. Da habe ich immer noch eine Menge sehen können.“

Und woher kommt die große Liebe zum Kino?

Meine Oma hatte noch vor uns einen Fernseher. Der war in einem Schrank drin. Und sie hatte so einen Tritt. Da habe ich immer drauf gesessen, so 50cm vor der Mattscheibe. Und das hat mir große Freude bereitet, diese Bilder, die ich da sehen konnte.

© EMS

Und bist du damals auch schon ins Kino?

Meine Eltern sind schon immer gerne ins Kino gegangen. Die haben mich einfach mitgeschleppt. Und die riesen Leinwand fand ich toll. Da habe ich immer noch eine Menge sehen können. Bud Spencer und Vier Fäuste für ein Halleluja, die Pferde und so. Das konnte ich erkennen. Im Kino halt immer noch viel besser als auf dem Fernseher. Und in den 70er Jahren sind meine Freunde oft ins Kino und ich bin halt mit. Ich hab das gemacht, was alle anderen auch gerne tun: Kino! Love Story, der lief 75, da hab ich so Bilder im Kopf, wie eingebrannt. Und ich mag auch die Atmosphäre im Kino.

Was macht denn für dich, als jemand der die visuelle Ebene nicht hat, einen guten Film aus?

Ich mag geistreiche Dialoge und Wortwitz. Filmmusik ist total wichtig.

„Die Audiodeskription hat eindeutig auch ihre Grenzen.“

Wie ist es mit Filmen, in denen nicht viel gesprochen wird? Ist es für dich grundsätzlich so: je mehr Dialog, desto besser?

Ne, wenn ganz viel Dialog ist, ist ja überhaupt keine Zeit, irgendwas zu beschreiben. Die Audiodeskription hat eindeutig auch ihre Grenzen. Wenn zu wenig gesprochen wird, kann es schwierig sein. Und wenn zu viel gesprochen wird genauso. Zum Beispiel bei dem Film Heil. Da war zum Beispiel eine Szene, in der die Polizei in einen Dönerladen auf dem Land irgendwo in Brandenburg gerufen wird. Die sind überfallen worden, von Nazis. Und die Bullen kommen an und sagen: „Rassistischer Hintergrund? Das sehen wir jetzt nicht so!“ Aber auf der Wand siehst du die Einschusslöcher in Form eines Hakenkreuzes. Die Autorin der Audiodeskription hat mir erzählt, da wäre einfach keine Zeit gewesen, das zu beschreiben. Der Bulle sagt „kein rassistischer Hintergrund“ und gleichzeitig wird dieses Bild gezeigt. Da kann die Audiodeskription nicht weiterhelfen.

Ist es für dich ein Unterschied, ob du ein Hörspiel hörst oder einen Hörfilm?

Ja, na klar. Das ist oft das Argument, wenn Blinde ins Kino gehen: Warum hören die sich nicht ein Hörbuch an? Das war auch meine Meinung, als ich noch ein bisschen sehen konnte und mit Hörfilm noch gar nichts am Hut hatte. Aber nein, du hast im Kino eine ganz andere Akustik. Das Gemeinschaftserlebnis, das ist einfach was anderes.

„Wir brauchen Öffentlichkeit.“

© Barbara Fickert

Wenn du jetzt zaubern könntest, die Filmfee kommt und du darfst dir drei Sachen wünschen. Was würdest du dir wünschen für die perfekte Filmwelt?

Dass ich einfach ins Kino gehen kann wie jeder andere auch. Dass ich mir keine Gedanken machen muss, ob der Film auf der App ist, ob er international ist, deutsch, ganz egal. Ich such mir einen aus, so wie du das eben auch tust. Der interessiert mich, da geh ich jetzt einfach hin.

Ich glaube, viele Menschen wissen gar nicht, dass es so etwas wie Hörfilme und die App Greta & Starks überhaupt gibt.

Ja, das ist ganz schwierig. Es haben sich jetzt 35.000 Leute, blinde und gehörlose Nutzer, die App runtergeladen. Das ist viel zu wenig. Aber wie kommt man an die Leute ran? Wenn Kinofilme besprochen werden, müsste gleich immer ein Hinweis kommen. Wir brauchen Öffentlichkeit.

Danke Barbara für dieses ehrliche und ausführliche, vor allem aber spannende Interview. Vielleicht kann ich ja damit der App Greta & Starks, dem Projekt Kinoblindgänger und dem Hörfilm in Deutschland im Allgemeinen zu ein wenig mehr Öffentlichkeit verhelfen!

Sophie Charlotte Rieger
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