Die Berlinale 2017 – Der etwas andere Rückblick

Die Berlinale 2017 war in vielerlei Hinsicht für mich eine besonders schöne: In keinem anderen Festivaljahrgang habe ich derartig viele großartige Filme gesehen wie in diesem. Gleich fünf Regisseurinnen waren im Wettbewerb vertreten und auch in männlich* dirigierten Filmen gab es großartige Heldinnen zu entdecken. Dazu kamen spannende Veranstaltungen zu Frauen* vor und hinter den Kameras.

Trotzdem möchte ich in diesem Jahr keinen klassischen Festivalrückblick schreiben. Wer sich noch einmal einen Überblick über meine Erlebnisse und die von mir gesichteten Filme verschaffen will, kann das auf der Webseite vom Missy-Magazine tun. An dieser Stelle jedoch soll es um andere Themen gehen.

Filmstill aus Logan © 20th Century Fox

Ein Hort der Aggression

Ich weiß nicht, warum es mich in diesem Jahr so besonders überrascht hat, mit welcher Aggression viele Menschen auf der Berlinale unterwegs sind. Ich bin mir sicher, dass es in jedem anderen Jahr ebenso war, doch aus einem mir noch nicht näher bekannten Grund konnte ich zuvor leichter darüber hinwegsehen.

Besonders auffällig war für mich in diesem Jahr eine spezielle Gruppierung des privaten Berlinale-Publikums: Gutbürgerlich, vermutlich akademisch gebildete Ü50er_innen. Die Sorte Menschen, die sich vor dem Film noch in gehobener Lautstärker über das aktuelle Opernprogramm austauschen, damit auch wirklich jede_r im Kino von ihrem kulturellen Wissen beeindruckt ist. Meist gestalten sich diese Dialoge aber überaus entlarvend. Gängige Namen von Werken, Verfasser_innen und Regisseur_innen werden auf verstörende Art und Weise falsch ausgesprochen und nicht selten lassen sich in den so überzeugend vorgetragenen Hintergrundinformationen eklatante Wissenslücken entdecken. Es sind dieselben Menschen, die Gift und Galle spucken, sollte eines sich versehentlich auf einen durch sie reservierten Platz gesetzt haben, als hätten die Damen* und Herren* seit Jahrhunderten nicht mehr gesessen und somit Anlass diesen einen Kinosessel bis aufs Blut zu verteidigen. Die freie Platzwahl setzt wirklich ein gefährliches Aggressionspotential frei und sollte im Namen der Sicherheit vielleicht noch einmal überdacht werden…

Spannend an eben jener Gruppe ist übrigens auch die spürbare Überforderung angesichts besonders, nun sagen wir, „mutiger“ Berlinale-Filme. Das absolute Highlight stellte dieses Jahr mein Sitznachbar im experimentellen Sci-Fi-Porno Fluid0 dar, der sich – augenscheinlich verstört von zahlreichen erigierten Schwänzen und literweise spritzenden Spermas – nach zwei Dritteln des Films seine Brille ABsetzte, um vom Leinwandschauspiel weniger mitzubekommen.

Filmstill aus Una mujer fantástica © Berlinale

Sexisten im Schutz der Dunkelheit

Und wo wir schon beim Thema Sexualität sind, möchte ich einen Aspekt ansprechen, der – da bin ich mir sicher – in dieser Form bislang kaum thematisiert wurde. Der dunkle Kinosaal ist ein feiner Ort für sexuelle Belästigung: Es ist dunkel und ruhig und soll gefälligst auch ruhig bleiben. Wer schon einmal während eines Berlinale-Films versucht hat, ein Brötchen aus einer Papiertüte zu klauben, weiß wovon ich spreche. Ich selbst wurde während einer Vorführung von meinem männlichen* Sitznachbarn auf höchst unangenehme Weise anhaltend angestarrt. Eine Kollegin erzählte mir sichtlich verstört, sie sei während eines Films von einem Mann wiederholt begrapscht worden, hätte sich jedoch nicht getraut, ihre Stimme zu erheben. Ohnehin habe es etwa eine Stunde gedauert bis ihr klar geworden wäre, dass diese Berührungen kein Versehen, sondern gezielte Übergriffe dargestellt hätten.

Ich selbst wurde vor 2 ½ Jahren durch einen männlichen* Kollegen, der in derselben Pension wie ich untergebracht war, massiv sexuell belästigt. Eines Abends kam er in mein Zimmer, bedrängte mich, griff mir unter den Rock und drohte auf meinen expliziten verbalen und nonverbalen Widerstand hin, sich nachts Zugang zu meinem Zimmer zu verschaffen. Glücklicher Weise hat er diese Drohung nicht wahr gemacht! Als ich ihn später auf dieses Ereignis ansprach und meinen Unmut über sein Verhalten kundtat, gab er zu bedenken, ich hätte an diesem Tag einen kurzen Rock getragen und damit quasi eine Einladung ausgesprochen. An einem anderen Abend begegnete ich ihm auf dem Weg zum Badezimmer. Er stand splitterfasernackt mitten im Flur und machte keine Anstalten, mir Platz zu machen. Als ich ihm mitteilte, dass ich dieses Verhalten unangebracht fände, witzelte er, ich solle mich nicht so haben, ich hätte doch sicherlich schon einmal einen nackten Mann* gesehen.

Anfänglich hatte ich überlegt, diese Person beim internationalen Verband der Filmkritik, der FIPRESCI, anzuzeigen und um seinen Ausschluss aus der Vereinigung zu bitten. Da ich mir aber sicher war, seine Einschätzung der Lage werde mehr Gehör finden und meine „Hysterie“ nur negativ auf mich zurückfallen, tat ich es nicht.

Ich schreibe das, weil auch diese Ereignisse Teil jener sexistischen Gesellschaftsstrukturen sind, die ich mit meiner journalistischen Arbeit aufdecken und bekämpfen möchte. Diese Strukturen existieren im Bereich des Filmjournalismus genauso wie in anderen Berufen. Wie sonst wäre es beispielsweise zu erklären, dass ich bei den öffentlichen Veranstaltungen zum Thema „Frauen* hinter den Kameras“ nur Kolleginnen, aber keine mir aus meinem beruflichen Umfeld bekannten Männer* getroffen habe. Mal ganz ehrlich: Das ist peinlich – aber nicht für mich!

Filmstil aus The Party © Oxwich Media Limited/ Adventure Pictures Limited

Se inglisch längwitsch is häwi

Nicht nur sexuelle Belästigungen sind ein ärgerlicher Teil meines Berufsalltags. Auch bestimmte Begegnungen mit „älteren“ Kritiker_innengeneration lassen mir manchmal die Galle hochsteigen. So wurde ich eines Tages Zeugin des Konflikts zwischen einem Ü50er-Kollegen und der Berlinale-Mitarbeiterin im Schreibraum für die Presse. Der Kollege verlangte von der jungen Frau*, sie solle für ihn von einer Berlinale Email-Adresse seinen Artikel an die beauftragende Redaktion schicken, sprach aber nicht ausreichend Englisch, um dieses Anliegen verständlich vorzubringen. Ich wurde zur Übersetzung hinzugebeten und musste realisieren, dass jener Kollege nicht nur trotz fehlender Englischkenntnisse auf einem internationalen Festival eingesetzt wurde, sondern auch über erschreckend wenig Wissen über dieses Internet verfügte. Er meinte, die Email nicht von seinem Account schreiben zu können, weil der PC im Presseraum ja nicht sein eigener sei!

Ein ähnliches Erlebnisse hatte ich bei einer englischsprachigen Veranstaltung zur Beteiligung von Frauen* an der Filmproduktion, als eine Kollegin der selben Altersgruppe sich zu Wort meldete und ihren Kommentar auf deutsch vortrug, weil sie angeblich kein Englisch beherrsche. Viel schockierender noch als die fehlenden Fremdsprachenkenntnisse einer Filmjournalistin war jedoch der Inhalt ihrer Aussage: Männer* hätten es genauso schwer wie Frauen*, denn das Filmbusiness sei eben ein besonders hartes. Danke für nix, liebe Kollegin!

Ich möchte nicht wissen, wie viele junge, hochqualifizierte Kolleg_innen während des Festivals entweder vollkommen unbezahlt oder eklatant unterbezahlt rekordverdächtige Schichten geschoben haben. Wie kann es sein, dass von unserer Generation sieben Fremdsprachen und Programmierkenntnisse erwartet werden, um auch nur die Aussicht auf einen eventuell bezahlten Job zu haben, während Redaktionen noch Menschen wie den oben erwähnten Kollegen beauftragen? Ich kenne nicht eine_n (!) Kolleg_in meiner Generation, die_der Probleme mit der englischen Sprache hat! Versteht mich nicht falsch: Mitnichten plädiere ich dafür, Kolleg_innen der älteren Generation zu kündigen. Aber wie wäre es denn damit, statt diesen ein paar jüngere Mitarbeiter_innen mit der Berichterstattung von internationalen Filmfestivals zu beauftragen und sie auch entsprechend zu entlohnen?

Filmstill aus Tiger Girl © Constantin Film / Fogma

Filmaktivismus statt Filmkritik

Apropos Kolleg_innen: Ich hadere schon lange mit dem Begriff der Filmkritik beziehungsweise der Bezeichnung meiner selbst als Filmkritikerin. Zu oft habe ich im Gespräch mit Kolleg_innen das Gefühl, eine vollkommen andere Einstellung, ein völlig anderes Verständnis unseres Sujets zu haben.

So befremdet es mich beispielsweise, mit welcher Inbrunst so mancher Kollege (und ich muss leider sagen, dass es sich dabei ausschließlich um Männer* handelt, die ja ohnehin auch in meinem Beruf eklatant in der Mehrheit sind) über Filme wettert und vernichtende Pauschalurteile fällt. Ich versuche jeden Film als ein Stück Kunst anzuerkennen, in das jemand Energie, Zeit und Leidenschaft investiert hat. Wenn ich einen Film in seiner Gänze ablehne, dann ausschließlich aus politischen Gründen, also weil er meiner Meinung nach diskriminierende Botschaften vermittelt. Auch die Haltung, die diesen Pauschalurteilen innewohnt, die Annahme, die vermeintlich umfassende Kenntnis der kompletten Filmgeschichte (seltenst gehören dazu übrigens Regisseurinnen) berechtige zu einem Wahrheitsanspruch, ärgert mich immens. „Ich weiß, wie gut oder schlecht ein Film ist, denn ich habe Ahnung davon. Oh ja, schaut nur, wie viel Ahnung ich habe! Ich habe so viel Ahnung, sie dringt mir aus allen Poren. Oh, schaut nur wie viel Ahnung ich habe!“ Ungelogen: Diese Ausstrahlung geht mit so manchem Kollegen einher.

Diese Berlinale hat mir eindeutig gezeigt, dass meine Arbeit mit dem deutschen Verständnis von Filmkritik wenig zu tun hat. Als ich an einem runden Tisch der Europäischen Kommission über die Darstellung von Gewalt gegen Frauen in Film und Fernsehen saß, traf mich die Außergewöhnlichkeit dieser Situation mit unerwarteter Heftigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit einer derart großen Gruppe von Filmspezialist_innen einer Meinung darüber war, welchen großen Einfluss die Darstellung von Gender auf unser tägliches Miteinander hat. Wie oft muss ich mich erklären und gegen diverse antifeministische Vorwürfe zur Wehr setzen, wenn ich einen Film auf Grund seiner sexistischen Figurenzeichnung ablehne. Nein, ein Film, der Gewalt gegen Frauen bagatellisiert oder gar im Subtext propagiert, ist für mich kein guter Film. Und ich verkünde hiermit in aller Deutlichkeit: Es sollte die Aufgabe von jedweder Bewertung des Fernsehens und Kinos sein, egal ob von Kritiker_innen, Gremien, Preisjuror_innen oder besonders wertvollen Bewertungsstellen, diesen Aspekt in ihr Urteil miteinzubeziehen.

Das Ziel meiner Arbeit ist es nicht, irgendjemandem das Ausmaß meines Filmwissens zu demonstrieren. Mein Ziel ist es ebenso wenig, einen Amazon-Algorithmus nachzuäffen, der Lesenden sagt, welcher Film ihnen sicher gefalle, wenn sie Streifen XY mochten. Sondern mein Ziel ist es a) Filmen von und über Frauen zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen und b) sexistische Stereotypen und Narrative aufzuzeigen und c) mich dafür einzusetzen, dass diese bald der Vergangenheit angehören – auch jenseits von Mattscheibe und Leinwand.

Und wenn jetzt jemand nun der Meinung sein sollte, dass diese Einstellung mit Filmkritik nichts zu tun hätte, das sie zu politisch sei: in Ordnung! Ich erhebe keinen Anspruch auf den Titel „Filmkritikerin“.

Mein Name ist Sophie Charlotte Rieger und ich bin Filmaktivistin aus Leidenschaft! Noch Fragen?

Sophie Charlotte Rieger
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