Die Berlinale 2016 – Von Perspektivwechseln und Qualität
Die vergangene Berlinale war vermutlich die lehrreichste meines bisherigen Journalistinnen-Daseins. Nicht nur, dass ich bei den verschiedenen thematischen Veranstaltungen zahlreiche Filmlöwinnen wiedertreffen und kennenlernen konnte, ich wurde durch eine Diskussion mit anderen Kritiker_innen auch auf mich selbst zurückgeworfen. Denn nicht nur im Film muss ein Diskurs über männliche* und weibliche* Perspektiven geführt werden, sondern auch in der Filmkritik.
Vorab: Die Veranstaltung von EWA, bei der die Ergebnisse der europaweiten Studie zum Thema „Where are the Women Directors in Europe?“ vorgestellt wurden, habe ich leider verpasst. Denn obwohl die Anzahl der Filmfrauen-Events sich noch in einem übersichtlichen Rahmen befindet, kollidierten dann doch die Termine einzelner Veranstaltungen. Informationen zur Studie findet ihr aber ganz einfach auf der Homepage von EWA.
Women in Film and Television
Die erste Filmlöwinnen-Veranstaltung dieses Berlinale-Jahrs war für mich das WIFT Event zum Thema „Looking into the future: How to successfully choose tomorrow’s stories“. Das gesamte Setting – von den souveränen Filmfrauen bis hin zur Sponsoren-Werbung – wirkte ausnehmend professionell. Kurzum: Dieses Treffen von Filmfrauen aus der ganzen Welt war nicht nur bestens organisiert, sondern nahm sich auch selbst absolut ernst. Dies waren keine Frauen*, die „versuchten“ sich in einer Männerwelt zu behaupten. Nein, dies waren Menschen, die sich ihrer Kompetenzen bewusst waren und denen es vor allem darum ging, sich untereinander Inspiration und Hilfestellung zu geben. Mein Fazit: Gut gebrüllt!
Die Filmlöwin in der Bubble
Dieses Jahr hatte ich leider bedauerlich wenig Zeit, um den Veranstaltungen in der sogenannten Bubble von Pro Quote Regie beizuwohnen. Dafür aber hatte ich die Ehre, an eben jenem Ort mit eben jenen Filmfrauen über die Quote, Qualität im Film und meine Arbeit zu sprechen – und zwar vor einer Kamera und im Gespräch mit niemand Geringerer als Tatjana Turanskyj. Es erfüllt mich mit großem Stolz, dass meine Meinung tatsächlich gefragt ist, und es bereitet mir große Freude, ein so großartiges Projekt wie s mit meinem Interview zu unterstützen.
Der erste Si Star
Weit weniger professionell organisiert und mit einigen wenigen charmanten Schwachstellen, präsentierte sich die erste Verleihung des Si Star an eine deutsche Regisseurin: Maike Conway wurde für ihren Dokumentarfilm Corinnes Geheimnis ausgezeichnet, Sylke Enders erhielt für ihren Spielfilm Schönefeld Boulevard eine lobende Erwähnung. Der Logik folgend, dass nur diejenige erfolgreich sein könne, die auch mitspielen dürfe, war der unter anderem vom Frauennetzwerk Soroptimist International geförderte Preis mit stolzen 10.000 € dotiert. Diese Summe – so mit Sicherheit die Intention – kann Maike Conway nun für die Finanzierung ihres nächsten Projekts verwenden. Der zweite „Si Star“, den es trotz des hierfür recht dienlichen Namens nicht als haptische Trophäe gibt, wird in zwei Jahren verliehen.
Pro Quote Regie und die Qualität
Die in meinen Augen interessanteste Veranstaltung war die von Pro Quote Regie organisierte Podiumsdiskussion zum Thema Qualität. Die Frage nach der Qualität ist nämlich eines der Hauptargumente gegen eine gesetzlich festgelegte Gleichbehandlung von Männern* und Frauen* (nicht nur im Filmbusiness). Prof. Dr. Karola Wille, ARD-Vorsitzende und Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks, ließ mit ihrem Einblick in den Status Quo der Förderung und TV-Produktion Hoffnung aufkommen. Insbesondere beim WDR sei die Botschaft von Pro Quote Regie angekommen, denn von dieser Sendeanstalt seien für den beliebten Sendeplatz zur Prime Time am Mittwochabend fünf Filme von Regisseurinnen und fünf Filme von Regisseuren eingereicht worden. Es geht also voran und die tapfere, weil ehrenamtliche Arbeit von Pro Quote Regie, trägt sichtbare Früchte.
Zum Qualitätsdiskurs konnte insbesondere Roland Zag, seines Zeichens Lektor, Dramaturg und Story-Doctor, Aufschlussreiches beitragen. Er gab zu bedenken, dass allein die Logik des Qualitätsbegriffs eine patriarchale sei. Alternativ könne auch von Qualitäten, also in der Mehrzahl, gesprochen werden, doch entspräche dieses eben nicht den kompetitiven Strukturen eines patriarchalen Systems. Darüber hinaus sei eben jene kompetitive Denkart auch kennzeichnend für männlich* dirigierte Filme (Heldengeschichten, Krimis etc.) während weibliches* filmisches Erzählen vor allem empathisch sei. Soziologin Dr. Maya Götz ergänzte, dass sich das Geschlecht der Filmemacher_innen nachweislich auf die Geschlechterkonstruktionen eines filmischen Werks auswirke.
Am Ende der Diskussionsrunde sollte jede_r der Anwesenden einen seiner_ihrer Meinung nach qualitativ hochwertigen Film nennen. Unter den fünf genannten Filmen waren zwei Kinderfilme (Ostwind und Ente Gut), der neue Film von Doris Dörrie, Grüße aus Fukujima, der feministische Blockbuster Suffragette und – eindeutig aus der Reihe fallend – Wir sind die Millers. Diese amerikanische Komödie wurde von Produzent Christian Becker genannt (Fack ju Göhte) und zeigt eindeutig, dass der Begriff Qualität völlig unterschiedlich interpretiert und angewendet werden kann.
Das IFFF und das Filmerbe der Frauen*
Die für mich in diesem Jahr letzte Filmfrauen*-Veranstaltung war das Netzwerktreffen des Internationalen Frauenfilmfestivals Dortmund-Köln, das sich dieses Jahr dem Thema „No Future Without A Past: Save Your Place in Film History“ widmete. Auf dem Panel thematisierten Gäste aus verschiedenen europäischen Ländern das Problem der Archivierung. Denn auch wenn es um die Restaurierung, Digitalisierung und Archivierung von Filmen geht, werden Werke von Frauen* zu oft übersehen. Bleibt ihr Erbe jedoch nicht erhalten, werden sie aus der Filmgeschichte hinausgeschrieben. Der Aktivismus der Filmfrauen* darf sich also nicht nur auf die kommenden Generationen konzentrieren, sondern muss auch den Nachlass der vorherigen in den Blick nehmen.
Inhalt statt Problematisierung
Bei all den genannten Veranstaltungen zeigte sich eine deutliche Veränderung zum Vorjahr. Wurde 2015 noch eifrig über die Missstände in der Filmindustrie und die daraus folgende Daseinsberichtigung von Pro Quote Regie diskutiert, geht es 2016 um Inhalte. Der Handlungsbedarf steht nicht mehr zur Debatte und die Forderung nach Gleichberechtigung vor und hinter der Kamera ist inzwischen auch bei den Sendeanstalten und Produktionsfirmen angekommen (wenn auch mit unterschiedlicher Resonanz).
Nun, da die Menschen für das Thema sensibilisiert sind, können die Inhalte diskutiert werden. Ob Stoffentwicklung und Finanzierung eines Filmprojekts wie bei WIFT, der Qualitätsbegriff bei Pro Quote Regie oder die Problematisierung der Filmearchive durch das IFFF – die Verhandlung all dieser Themen kann nur durch die Vorarbeit des letzten Jahres geführt werden. Erst wenn ein Bewusstsein für die Ungleichbehandlung in der Filmkunst geschaffen ist, können wir zu jenen inhaltlichen Fragen finden, die das Potential zur Veränderung bergen. Und, ganz nebenbei gesagt, diese produktive Herangehensweise ist für Außenstehende auch deutlich sympathischer als das wiederholte Herunterbeten der aktuellen Missstände. Deshalb hoffe ich sehr, dass die Veranstaltungen bei der Berlinale 2016 richtungsweisend für kommende Initiativen sind.
Was zu kritisieren übrig blieb
Weil im Berlinale-Trubel oft nicht genug Zeit ist, all jene Filme zu besprechen, die mir am Herzen liegen, möchte ich in aller Kürze noch ein paar beeindruckende Werke benennen.
Mit Surrealen Bildern und irgendwo zwischen Psychodrama und düsterem Märchen erzählt Bence Fliegauf in Liliom Ösvény (Lily Lane) vom Kindheitstrauma seiner Protagonistin. Hypnotische Bilder versetzen die Zuschauer_innen in einen Rausch, in dem das Thema „Mutter- und Elternschaft“ nicht mit rationalen Elementen, sondern Assoziationen und Emotionen verhandelt wird.
Bei A Quiet Passion handelt es sich um ein theatral inszeniertes Bio-Pic über die US-amerikanische Dichterin Emily Dickinson, hier mit einer Oscar-reifen Leistung verkörpert von Cynthia Nixon. Wie ein Kammerspiel beschränkt sich der Film größtenteils auf das Haus der Familie, in dem verschiedene Personen in betont poetischer Sprache lange Dialoge führen. Was strapaziös beginnt, entwickelt im Laufe des Films einen ganz eigenen fesselnden Charme und Zauber.
Born to Dance von Tammy Davis ist ein ungewöhnlicher und noch dazu immens unterhaltsamer Tanzfilm, der eine von der Leinwand nahezu ausgeschlossene Bevölkerungsgruppe sichtbar macht: die Maori in Neuseeland. Obwohl den klassischen Regeln des Tanzfilm-Genres folgend, zeigt Born to Dance überraschend komplexe Figuren und hat sogar Raum für Queerness.
Im Hip Hop Musical Chi-Raq versucht sich Spike Lee erfolgreich an einer modernen Adaption des griechischen Dramas Lysistrata, in dem die Frauen* durch die Verweigerung des Beischlafs Frieden erzwingen. In lyrischen Reimen vorgetragene, vulgäre Gangster-Dialoge und jede Menge Frauen*power machen diesen Film zu einem immens unterhaltsamen Erlebnis. Selten hat ein weiblich* zentrierter Film solchen „WUMMS“ gehabt.
Eine der europäischen Ressourcen, die Michael Moore in seinem neuen Dokumentarfilm Where to Invade Next für seine US-amerikanische Heimat beanspruchen will, ist die Rolle der Frau* in der isländischen Wirtschaft. Und nicht nur in diesem Kontext macht Moores Film klar, dass die Welt in den Händen der Frauen* eine bessere wäre.
Leider habe ich dann doch wieder nicht viele Filme in den Sektionen Generation Kplus bzw. 14Plus sehen können. Was ich jedoch gesehen habe, stimmt mich froh und hoffnungsvoll. Sowohl Jamais Contente (Miss Impossible) von Emilie Deleuze als auch Zhaleika von Eliza Petkova zeigen starke, emanzipierte Mädchen, denen es nicht nur um Jungs geht und die trotz der Hürden des (patriarchalen) Alltags den Mut haben, ihren Weg zu gehen.
Zu einem Filmfestival gehören aber natürlich nicht nur Highlights, sondern auch filmische Niederungen. Der mit Abstand sexistischste Film, den ich bei der Berlinale 2016 mitansehen musste, war Saint Amour. Ich vermute, die Regisseure Benoît Delépine und Gustave Kervern haben versucht, eine bissige Farce zu inszenieren. Das Ergebnis ist jedoch eine durch und durch misogyne Komödie über tierische und menschliche Zuchtbullen, die dazu animiert über Frauen mit Behinderung, vorzeitiger Menopause und weiblichen Rundungen zu lachen. Dass ein derartig sexistischer und diskriminierender Film im Berlinale Wettbewerb läuft, zeigt deutlich, dass es für mich noch viel zu tun gibt.
Warum wir eine feministische Filmkritik brauchen II (hier geht’s zu Teil 1)
Während des Festivals entbrannte auf Facebook eine Diskussion um den Film 24 Wochen, die sich, wie ich später feststellte, längst nicht auf meinen Bekanntenkreis beschränkte. Die Meinungen über den deutschen Wettbewerbsbeitrag von Anne Zohra Berrached gingen stark auseinander. Während die einen darin einen notwendigen Tabubruch, hohe Filmkunst und grandioses Schauspiel sahen, bescheinigten andere diesem Werk das Totalversagen. Werbeästhetik und Themenkino ohne Sinn für filmische Ästhetik, lauteten die Vorwürfe. Ja sogar die inhaltliche Relevanz sprachen einige Kolleg_innen dem Drama über Spätabtreibung ab. Und die Vergabe der Bären legt leider nahe, dass die Jury sich dieser Beurteilung anschloss.
Auffällig bei all dem war, dass das Lager der Befürworter_innen vornehmlich aus Frauen*, das der starken Kritiker_innen vornehmlich aus Männern* bestand. Das soziale Geschlecht der Autor_innen hatte eindeutig, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Einfluss auf die Bewertung des Films als Gesamtwerk. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr, dass es so etwas wie objektive Filmkritik eben nicht gibt, weil hinter jedem Text ein Individuum mit einer eigenen Geschichte steht, die selbst bei den professionellsten Kritiker_innen immer einen gewissen Einfluss auf die Bewertung ausübt. Wenn dem aber so ist, die Bewertung von Filmen also je nach sozialem Geschlecht des Verfassenden variiert, muss uns eine weibliche* und/oder feministische Filmkritik explizit angestrebt werden. Wir brauchen auch eine Filmkritik, die sich mit dem Konzept „Frau“ und der damit verbundenen Lebensrealität beschäftigt und entsprechenden Filmen Öffentlichkeit gibt!
An dieser Stelle kommt auch die von Roland Zag problematisierte Qualitätsdiskussion wieder ins Spiel. Die Herangehensweise, einen Film qualitativ zu beurteilen, also einen objektiven, künstlerischen Maßstab anzulegen, ist eine zutiefst patriarchale Strategie. Nicht umsonst werden auch die Begriffe des Genies und Auteurs noch heute männlich* definiert und begriffen. Die Vorstellung, Werke ließen sich anhand der Kunstfertigkeit ihrer Macher_innen entlang einer Qualitätsskala hierarchisieren, ist Teil eines männlichen*, kompetitiven Kunstverständnisses. Ein weibliches*, empathisches Kunstverständnis fragt nach den sozialen Implikationen eines Stoffes, seiner Bedeutung im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext und dem Identifikationspotential der Figuren. Dieser Zugang zum Medium Film ist nicht mehr oder weniger wichtig als der kompetitive, sondern hat schlicht und einfach dieselbe Daseinsberechtigung. Wahrscheinlich ist es genauso, wie Roland Zag es auch über das Kino sagte: Die Idealvorstellung wäre eine Verbindung von beidem! Und für das notwendige Gleichgewicht muss vor allem die feministische Filmkritik gestärkt werden. Wer mag, kann direkt jetzt, hier und heute damit anfangen.
Die Gewinnerinnen
Silberner Bär für die Beste Regie: Mia Hansen-Løve für L’avenir (Things to Come)
Silberner Bär für die Beste Darstellerin: Trine Dyrholm (Die Kommune)
Goldener Bär für den Besten Kurzfilm: Leonor Teles für Balada de um Batráquio (Batrachian’s Ballad)
Lobende Erwähnung der Kinderjury von Generation Kplus (Langfilm): Emilie Deleuze für J’amais contente (Miss Impossible)
Lobende Erwähnung der Kinderjury von Generation Kplus (Kurzfilm): Niki Padidar für Ninnoc
Lobende Erwähnung der Internationalen Jury von Generation Kplus (Langfilm): Pepa San Martín für Rara
Spezialpreis der Internationalen Jury von Generation Kplus (Kurzfilm): Myrsini Aristidou für Semele
Lobende Erwähnung der Jugendjury von Generation 14plus (Kurzfilm): Ida Lindgren für Kroppen är en ensam plats (The Body Is a Lonely Place)
Lobende Erwähnung der Internationalen Jury von Generation 14plus (Langfilm): Eliza Petkova für Zhaleika
Spezialpreis der Internationalen Jury von Generation 14plus (Kurfilm): Roxana Stroe für O noapte in Tokoriki (A Night in Tokoriki)
Lobende Erwähnung der Internationalen Jury von Generation 14plus (Kurzfilm): Ida Lindgren für Kroppen är en ensam plats (The Body Is a Lonely Place)
Preis der Fipresci Jury (Forum): Rama Thiaw für The Revolution Won’t Be Televised
Preis der Gilde Deutscher Filmkunsttheater: Anne Zohra Berrached für 24 Wochen
Cicae Art Cinema Award: Doris Dörrie für Grüße aus Fukushima
Teddy Award Dokumentar-/Essayfilm: Sara Jordenö für Kiki
Teddy Award Bester Kurzfilm: Joanna Rytel für Moms On Fire
Special Teddy Award: Christine Vachon
Made in Germany – Förderpreis Perspektive: Janna Ji Wonders für Walchensee Forever
Lobende Erwähnung des Caligari-Filmpreis: Tatiana Huezo für Tempestad und Rama Thiaw für The Revolution Won’t Be Televised
Heiner-Carow-Preis: Doris Dörrie für Grüße aus Fukushima
Preis der Männermagazin Leserjury: Anna Muylaert für Mãe só há uma (Don’t Call Me Son)
- Irene von Alberti über Die geschützten Männer - 11. Dezember 2024
- Interview: Elizabeth Sankey über Witches - 25. November 2024
- FFHH 2024: Blindgänger - 2. Oktober 2024