Der wundersame Katzenfisch – Eine Familie voller Frauen

© Arsenal

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Surreale Nahaufnahmen, hörbare Atemgeräusche –The Amazing Catfish von Claudia Sainte-Luce beginnt mit der Wahrnehmungsebene von Hauptfigur Claudia (Ximena Ayala). Die junge Frau ist geistig abwesend, vielleicht gar verwirrt, wenn sie gedankenverloren Fruit Loops farblich sortiert und für ihre Ameisenmitbewohner_innen auf der Couch drapiert.

Mit fortschreitender Handlung wirkt Claudia nicht mehr geistig verwirrt. Vom Leben gezeichnet vielleicht, aber mit Sicherheit nicht geistig be_hindert oder neurotisch. Diese Begriffe definieren sich ja auch ausschließlich in Beziehung zur etablierten Norm. Und was ist schon normal? Die Familie von Martha (Lisa Owen) jedenfalls nicht. So viel steht fest. Als Claudia mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus liegt, wird sie Hals über Kopf von ihrer Bettnachbarin Martha adoptiert und das obwohl die vierfache Mutter auf Grund einer fortschreitenden AIDS-Erkrankung selbst ein Pflegefall ist. Dennoch besitzt Martha ausreichend Energie, um die zurückhaltende Claudia mit ihrer Hilfsbereitschaft völlig zu überrollen. Fast wirkt das übergriffig, denn das Mädchen hat im Grunde gar keine Chance sich gegen diese „Zwangsadoption“ zur Wehr zu setzen. Einmal wird sie gar mit den jüngeren Geschwistern im Haus eingeschlossen und kann nicht wie geplant in ihr eigenes Heim zurückkehren.

Je länger Claudia jedoch bei Marthas Familie bleibt, desto deutlicher wird, dass sie gebraucht wird und gebraucht werden will. Jedes der Kinder kompensiert die tödliche Erkrankung der Mutter auf seine Weise. Wendy (Wendy Guillén) verletzt sich selbst, Schuljunge Armando (Alejandro Ramírez-Muñoz) macht noch immer nachts ins Bett. Claudia wird für ihre neue Familie zur Mutter, Schwester und Freundin, je nachdem, welche Rolle gerade gefragt ist.

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Auch als Zuschauer_innen sind wir von Marthas Familie zunächst überfordert. In einer irrsinnig realistischen, aber zugleich auch chaotischen Szene eines gemeinsamen Mittagessens verdeutlicht uns die wackelnde Handkamera Claudias Verwirrung und Überforderung. Wir sind ganz nah dran an ihrem Erleben dieser Situation. Über den gesamten Film bleibt Claudia Sainte-Luce bei ihrer Hauptfigur. Auch wenn Marthas Krankheit große Dramatik entwickelt, ist The Amazing Catfish Claudias Geschichte. Die Geschichte einer einsamen jungen Frau, die überraschend eine Familie findet.

Man könnte sagen The Amazing Catfish ist ein Frauenfilm (wenn dieser Begriff nur nicht so furchtbar negativ konnotiert wäre). Weibliche Figuren dominieren die Leinwand und Armando ist nicht nur der Hahn im Korb, sondern wirkt in diesem Ensemble zudem wie das Quoten-Männchen. Claudias Chefin ist selbstredend ebenfalls weiblich, eine Affäre am Arbeitsplatz spielt sich zwischen zwei Frauen ab. Kurzum: The Amazing Catfish zeigt die Welt der Frauen. Und das ist gut so. Ein wenig feministische Skepsis schleicht sich dennoch ein, wenn Martha von ihren wechselnden Partnern und der AIDS-Erkrankung im selben Atemzug erzählt. Zu sehr drängt sich der sexistische Gedanke auf, ihre Krankheit sei die Konsequenz eines unangemessen promiskuitiven Verhaltens. Auch dass Martha ihren letzten Ehemann, der den Virus an sie weitergab, bis zu dessen Tod begleitete, zeugt nicht nur von Größe, sondern auch von einer diskussionswürdigen stereotyp weiblichen Aufopferungsbereitschaft.

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Letztlich aber ist The Amazing Catfish ein Statement für Frauenpower und Solidarität. Marthas Kinder von insgesamt drei verschiedenen Vätern sind sowieso „nur“ Halbgeschwister. Was macht es da noch aus, mit Claudia eine weitere junge Frau zu adoptieren?! Doch es entstehen immer wieder Situationen, in denen das jüngste Familienmitglied außen vor bleibt. Zum einen ist es die Gesellschaft, deren Familienbild sich auf Blutsverwandtschaft beschränkt, so dass Claudia in Krisensituationen vom Krankenhaus nicht als Familienmitglied behandelt wird. An anderer Stelle scheint sie sich selbst auszuschließen, aus Zurückhaltung und Angst vor Ablehnung. Familie, so lehrt uns The Amazing Catfish, ist nichts, was selbstverständlich entsteht oder abstrakten Regeln folgt. Familie basiert auf Liebe und gegenseitiger Unterstützung. Auf Grund von Marthas Krankheit sind die Rollen im System ohnehin aufgehoben. Die älteste Tochter Ale (Sonia Franco) hat längst die Verantwortung für die Jüngeren übernommen, die Pflege der Mutter wird unter den Älteren gerecht verteilt und dennoch weiß Martha ihren Kindern im Rahmen ihrer Möglichkeiten mütterlich zur Seite zu stehen.

Das klingt nach unerträglicher Harmonie? In gewisser Weise ja, denn The Amazing Catfish kommt tatsächlich gänzlich ohne Bösewicht_in aus. Der Film handelt von Menschen mit Schwächen und Stärken, die einander mal mehr, mal weniger vorbildlich begegnen. Nur Claudia bleibt ein wenig schwammig, wirkt zu sehr wie ein Engel in der Not, der die gebeutelte Familie vor sich selbst zu retten scheint. Am Ende jedoch ist die Frage, wer hier eigentlich wen gerettet hat, nicht mehr klar zu beantworten.

Während Claudia Sainte-Luce ihre Geschichte die meiste Zeit zwar mit viel Gefühl, jedoch ohne Drama erzählt, drückt sie im Finale noch einmal richtig auf die Tränendrüse. Aber irgendwie fühlt sich das gut an. Weinen ist Katharsis – nicht nur für die Figuren auf der Leinwand, sondern auch für die Zuschauer_innen.

Kinostart: 10. Juli 2014

Sophie Charlotte Rieger
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