Berlinale: Nobody Wants the Night

Eine Frau begibt sich in die Wildnis der kanadischen Arktis. Wenn Josephine Peary (Juliette Binoche) mit den Hundeschlitten und ihren drei männlichen Begleitern in die Einsamkeit des Eises aufbricht, erinnern die Panoramaaufnahmen der friedlichen und in ihrer Kargheit doch einschüchternden Natur ein wenig an Western-Filme. Nur umgekehrt, denn statt trockener und heißer Steppen, begibt sich die Heldin hier in die Eiseskälte.

© Leandro Betancor

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Und doch ist die Bedeutung der Natur hier dieselbe. Sie ist der Ort, an dem sich die Männer des westlichen Kulturraums austesten und beweisen, Grenzen überwinden und die Regeln und Normen der Zivilisation hinter sich lassen. Josephines Mann Robert versucht seit Jahren in verschiedenen Expeditionen den Nordpol zu erreichen. Der Gedanke, der erste Mensch am Nordpol zu sein, motiviert Robert zu bewundernswerten oder auch zweifelhaften Höchstleistungen – das ist eine Frage der Perspektive, die Isabel Coixets in ihrem Berlinale-Eröffnungsfilm Nobody Wants the Night schließlich an das Publikum weitergibt. Josephine hat sich in erster Linie in den Ehrgeiz ihres Mannes verliebt. Die Innuit Allaka (Rinko Kikuchi) jedoch stellt das Unternehmen des Forschers im späteren Verlauf des Films in Frage: Warum begeben sich Menschen, die bereits alles haben, auf eine derart gefährliche Suche? Was hoffen sie eigentlich zu finden?

Die westliche Zivilisation wird hier mehr als nur einmal in ihrer Eitelkeit vorgeführt. Erst kurz vor dem Erfrierungstod wechselt Josephine vom wallenden Kleid endlich in die deutlich wärmeren Tierfälle. Und erst kurz vor dem Verhungern greift sie endlich zum rohen Fleisch, das Allaka ihr anbietet. Allaka und die anderen Innuit sind für die harschen Lebensbedingungen bestens ausgerüstet. Für sie ist der Aufenthalt in der Eiswüste kein Abenteuer, sondern Alltag. Sie müssen sich nicht beweisen, keine unnötigen Risiken eingehen. Die Natur ist ihr Lebensraum, den sie als Freund und nicht als Feind interpretieren, der bezwungen werden müsste. Wenn der Polarwinter droht, ziehen sie sich nach Süden zurück.

Josephine aber besteht darauf, in der einsamen Hütte im Schnee zu bleiben und auf ihren Liebsten zu warten. An ihrer Seite Allaka, die – wie sich zu Josephines Schock herausstellt – auf denselben Mann wartet. Das klingt einerseits passiv und wenig emanzipiert: Das brave Weibchen erwartet brav und untätig die Rückkehr des Männchens. Doch so einfach ist es nicht. Es mag sein, dass Josephine wegen ihres Mannes ihr Leben riskiert und es ist auch derselbe Mann, der Allaka trotz des nahenden Polarwinters in der eisigen Einsamkeit festhält. Und doch sind die beiden Frauen hier draußen in der Wildnis, auf der gefährlichen Seite der „Frontier“, im „wilden Westen“ und nicht in der Zivilisation. Und hier haben sie einen ganz eigenen Kampf zu kämpfen. Einen Kampf der Unabhängigkeit.

© Leandro Betancor

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Es ist schade, dass Isabel Croixet diesen Kampf immer wieder durch künstliche Dramen unnötig überzeichnet. Die intensive Beziehung zwischen der wohlhabenden, wenn auch weitgereisten Dame und der einfachen Innuit ist spannungsreich genug. Faszination, Skepsis, Eifersucht und Zärtlichkeit wechseln sich einander ab, lassen die Frauen immer wieder in Konflikte geraten bis die Not sie schließlich zusammenschweißt. Dieser Mikrokosmos birgt großes Potential: Zwei Kulturen, zwei Wege Sehnsucht zu empfinden, Eifersucht zu erleben und dem sicheren Tod entgegen zu sehen. Schritt für Schritt nähern sich Josephine und Allaka einander an, wobei es grundsätzlich die erstere ist, die sich sträubt und Vorbehalte überwinden muss.

Nobody Wants the Night erzählt im Grunde vom entbehrungsreichen und körperlich wie emotional schmerzhaften Abschied einer Frau von einem Mann. Robert, der niemals auftritt, ist jedoch nur Stellvertreter für ein viel größeres männliches Prinzip. Isabel Coixet arbeitet mit dem Gegensatzpaar Natur und Kultur als weiblich und männlich konnotiert. Viel zu spät merkt Josephine wie sinnlos ihre Überidentifikation mit Robert und seinem Traum vom Nordpol gewesen ist. Schritt für Schritt muss sie sich nun von ihm und dem männlichen Prinzip der Kultur und Zivilisation befreien. Allaka fungiert dabei als naturverbundener Gegenpol, der ihr den Weg weist. Josephines Verwandlung beginnt im Kleinen mit dem Öffnen ihrer Haare. Später muss sie sich auch vom männlichen Prinzip der Statussymbole lösen: Die schicke Designer-Kleidung hält sie im arktischen Winter nicht warm. Viel wichtiger aber als die Überwindung des materiellen Besitzwerts ist die des personellen Besitzes. Ohne Allaka kann Josephine nicht überleben. Um sich mit der Innuit zu verschwestern, muss sie aber von den Besitzansprüchen ihrem Partner gegenüber absehen, ihre Eifersucht überwinden.

Schließlich ist auch die „Entdeckung“ des Nordpols Ausdruck des männlichen Prinzips. Der unbedingte Wille, sich diesen Ort durch die erste erfolgreiche Expedition der Menschheitsgeschichte gewisser Maßen zu Eigen zu machen, wird spätestens durch den Schlusstitel unterminiert: Heute gehen Historiker nämlich davon aus, dass Robert Peary den Nordpol trotz gegenteiliger Aussagen tatsächlich nie erreicht hat. Was am Anfang noch tapfer und bewundernswert erschien, ist letztlich reine Eitelkeit.

© Leandro Betancor

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Isabel Coixets Film ist kein Meisterwerk, begibt sich lange nicht so mutig auf unbekanntes Terrain wie seine Hauptfigur. Das Voice Over wirkt unnötig pathetisch, die Dramatik einzelner Passagen konstruiert. Doch in der Begegnung der beiden Frauen in der Wildnis, weitab von allen (männlichen) Regeln der Zivilisation liegt sowohl große Zärtlichkeit als auch Wahrheit.

Josephine kann nur überleben, wenn sie aufhört, sich der Welt der Männer anzupassen, ihre Träume und Wertvorstellungen zu übernehmen. Die „männliche“ Welt, die Kultur oder auch Zivilisation, in der Menschen hierarchisch kategorisiert werden und sich mit Statussymbolen schmücken, in der Individuen durch sinnentleerte Mutproben ihren Wert beweisen müssen und Menschen sich gegenseitig als Eigentum beanspruchen, ist kein erstrebenswertes Ziel. Für Josephine kommt diese Erkenntnis zu spät. Aber wir haben noch eine Chance!

Sophie Charlotte Rieger
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