Berlinale: Flocken

© Dan Jåma

© Dan Jåma

Jennifer wurde sexuell missbraucht. Die traumatischen Erlebnisse auf dem Schulklo, die Erniedrigung durch den Mitschüler Alexander, stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Schon wenn wir sie zu Beginn des Films als Brautjungfer vor dem Altar stehen sehen, liegt dieser Schleier der Traurigkeit über dem jungen Antlitz, der sich bis zum Ende des Films nicht ein einziges Mal heben wird.

Regisseurin Beata Gårdeler nimmt ihre Heldin in Schutz. Die Vergewaltigung liegt ausschließlich auf der inhaltlichen, nicht aber der visuellen Ebene. Jennifer versteckt das Gesicht hinter ihren Jahren, wird von hinten gefilmt oder auch durch eine milchige Plastikplane hindurch. Der Tathergang selbst liegt in der Vergangenheit und wird ausschließlich durch Jennifers wiederholte Zeugenaussagen vermittelt.

Ihre Mitmenschen gehen mit Jennifer weit weniger behutsam um als Beata Gårdeler. Zweimal ist das Mädchen gezwungen, durch detaillierte Tatbeschreibungen das Trauma wiederholt zu durchleben. Dabei wird sie durch die skeptische Haltung ihrer Zuhörer_innen wiederholt retraumatisiert. Fragen wie die nach ihrer Kleidung zum Tatzeitpunkt vollziehen die klassische Täter-Opfer-Umkehr und ihr Geständnis, mit dem Angeklagten zunächst einvernehmliche sexuelle Handlungen vollzogen zu haben, ist für viele der Anwesenden ein offensichtliches Entlastungsargument für den vermeintlichen Täter. Zu keinem Zeitpunkt erfährt Jennifer Unterstützung oder gar Bestärkung. Es grenzt an ein Wunder, dass sie überhaupt zu den wiederholten Aussagen in der Lage ist.

Beata Gårdeler zeigt all dies mit einer schmerzhaften Ruhe. Die Regisseurin nimmt sich viel Zeit, lässt Gänge und Situationen ausspielen und arbeitet mit langsamen Zooms. Diese bewusste Entschleunigung der Ereignisse verdeutlicht das Martyrium der Hauptfigur und unterstreicht ihre Hilflosigkeit. Gårdeler gibt ihrem Publikum keine Chance, sich durch ein packendes Storytelling vom Kern der Geschichte abzulenken, sondern zwingt ihre Zuschauer_innen mit hinein in die sich unerbittlich windende Abwärtsspirale der beiden Hauptfiguren.

Die Vergewaltigungsanzeige Jennifers ist wie ein Virus, der sich in der dörflichen Gemeinschaft verbreitet und sie nach und nach moralisch zersetzt. Niemand glaubt dem jungen Mädchen und die Aversionen der übrigen Familien und sogar des örtlichen Pastors richten sich schließlich nicht mehr nur gegen Jennifer, sondern ihre gesamte Familie. Die Schlinge zieht sich für das Opfer somit immer enger und die eigentliche Tat erscheint im Zuge der sich steigernden Erniedrigungen durch die Gesellschaft bald als das „kleinere Übel“. Aber auch Alexander, der alles bestreitet, leidet unter der Hexenjagt, plagen ihn doch deutlich sichtbare Schuldgefühle. Aber auch für ihn gibt es keine_n Ansprechpartner_in. Bis hin zum Pastor sind alle seine Mitmenschen auch ohne eine Stellungnahme von Alexanders Unschuld überzeugt.

Ein wenig erinnert Flocken an Thomas Vinterbergs Die Jagd. Nur richtet sich die unreflektierte Hetze des Dorfes hier nicht gegen den Täter, sondern das Opfer. Während bei Vinterberg ein kleines Mädchen seinen Kindergärtner zu Unrecht der sexuellen Belästigung bezichtigt, zeigt Flocken eindrucksvoll, wohin das Klischee des fälschlichen Vergewaltigungsvorwurfs führen kann. Das Argument, eine solche Beschuldigung könne Leben zerstören und sei deshalb stets kritisch zu hinterfragen, wird bei Beata Gårdeler durch das spürbare Martyrium der Überlebenden vollends entkräftet. Denn wer hat mehr Schutz durch Gesetz und Gesellschaft verdient: Ein potentielles Opfer oder ein potentieller Täter?

Zugleich demonstriert Flocken die sexistischen Strukturen, die dem Zweifel an Jennifers Aussage zu Grunde liegen: Eine Gesellschaft, die der weiblichen Spezies Emotionalität statt Rationalität als biologisch determiniertes Charaktermerkmal unterstellt, kann die Aussage einer Frau niemals über die eines Mannes stellen.

Beata Gårdelers Darstellung der patriarchalen Strukturen, die schließlich zur völligen Ausgrenzung Jennifers und ihrer Familie führen, ist beklemmend und erschütternd. Doch in der Gnadenlosigkeit der Mitmenschen – sogar Jennifers Freundinnen wenden sich ohne zu überlegen gegen sie – liegt auch eine gehörige Portion konstruierten Betroffenheitskinos. Das ist insbesondere hinsichtlich des Zielpublikums – Flocken läuft bei der Berlinale 2015 in der Sektion Generation 14+ – bedauerlich. Jennifer und ihrer Familie werden hier keinerlei Handlungsoptionen zugestanden. Aus ihrer Situation scheint es keinen Ausweg zu geben, zumindest keinen, den sie selbst und aus eigener Kraft einschlagen könnten. Das Ende des Films schließlich hinterlässt die Perspektivlosigkeit der ewigen Wiederkehr des Gleichen, als sei der Status Quo unveränderlich, die Gesellschaft unverbesserlich.

Geschichten wie diese haben zwei Seiten. Auf der einen gelingt es Beata Gårdeler die Situation des Opfers zu beleuchten und den Zuschauer durch das Gefühl der Betroffenheit zum Nachdenken und Handeln zu zwingen. Zugleich aber erschafft sie eben jene Opferposition der Hauptfigur. Jennifer kann sich gegen den sexuellen Übergriff ebenso wenig zur Wehr setzen wie gegen die Ausgrenzung und Erniedrigungen durch ihre Mitmenschen und bleibt damit letztlich passiv. Viel schöner wäre es, so denke ich zumindest, wenn insbesondere in Hinblick auf betroffene Mädchen und Frauen im Publikum ein bestärkender Impuls gegeben würde. Um sie eben nicht zu Opfern, sondern zu Überlebenden zu machen.

Aufführungstermine bei der Berlinale 2015
Sophie Charlotte Rieger
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