Berlinale 2017: Una mujer fantástica

Stellt euch mal Folgendes vor: Eine Frau* (Daniela Vega) erwacht nachts neben ihrem deutlich älteren Lebensgefährten (Francisco Reyes), der, kurzatmig und verwirrt, ganz offensichtlich einen nicht näher zu bestimmenden, aber doch offensichtlich lebensgefährlichen Anfall erleidet. Nehmen wir weiterhin an, die Frau* verlässt mit ihrem Partner die Wohnung, um ihn ins Krankenhaus zu fahren, aber in einem unbeobachteten Moment, stürzt er eine Treppe hinunter und schlägt sich den Kopf auf. Er lebt noch, aber es geht ihm sichtlich schlecht. Die Frau* setzt ihn ins Auto, braust wie eine Irre durch die Nacht, schafft es in Rekordzeit zum Krankenhaus, springt aus ihrem Wagen, schreit nach Hilfe… Aber es ist zu spät. Der Mann* stirbt.

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Was glaubt ihr, wie die Geschichte weitergeht? Ich stelle mal eine Vermutung an: Di_er behandelnde Mediziner_in nimmt die Frau* in den Arm und übermittelt ihr schonend und einfühlsam, die schreckliche Nachricht. Er fragt vielleicht noch, ob er ihr mit etwas helfen könne. Dann trifft der Rest der Familie ein. Alle liegen sich weinend in den Armen, stützen einander.

Aber in Una mujer fantástica ist das anders: Der Frau*, Marina ihr Name, wird mit Skepsis begegnet. Die Polizei kommt um ihre Personalien aufzunehmen. Statt Trost erfährt sie Feindseligkeit durch die Familie und Verdächtigungen durch die Polizei. Aber warum?

Marina ist ein Trans*mensch, eine Frau*, die vor ihrer Geschlechtsangleichung in einem männlichen* Körper gelebt hat. Im Fall dieser Filmfigur ist dies aber in den ersten Minuten derart nebensächlich, dass wir als Zuschauer_innen die allgemeinen Feindseligkeit gegen Marina nicht begreifen können. Es braucht eine ganze Weile bis der Groschen fällt, bis wir Marina mit den Augen der anderen Filmfiguren sehen können.

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In diesem „sehen“, in dieser Perspektive verbirgt sich auch die Achillesferse von Sebastián Lelios Wettbewerbsbeitrag. Wie schon in seinem letzten Film Gloria, der Hauptdarstellerin Paulina García einst einen Bären einbrachte, folgt er seiner weiblichen* Haupfigur auf Schritt und Tritt. Mit dem Tod Orlandos der in den ersten Filmminuten im Fokus steht, ist Marina das unangefochtene Zentrum der Erzählung. Fortan gibt es keine Szene mehr, in der sie nicht zugegen wäre. Das Kinopublikum erlebt die Geschichte zumindest inhaltlich rein aus ihrer Perspektive: Was hinter ihrem Rücken oder in ihrer Abwesenheit geschieht, erfahren auch wir nicht. Die Kamera klebt dabei so nah an der Heldin, dass auch das Setting stark an Bedeutung verliert. Kurzum: Dies ist allein Marinas Film.

Wären da nicht diese wenigen unangenehmen Szenen, in denen Sebastián Lelio aus unerfindlichen Gründen nicht darauf verzichten kann, seine Heldin zum Objekt unseres Voyeurismus zu machen. Auf der Wortebene darf sich Marina gegen die klassischen, grenzüberschreitenden Fragen von Cis-Menschen wehren, die an intimen Details, beispielsweise über ihre Geschlechtsorgane, interessiert sind. Als sich Marina für eine Polizeiuntersuchung entkleiden muss, ist ihre Scham für den eigenen Körper deutlich spürbar, der sich eben auch dem Kampf um die eigene Identität ergibt. Und hier begeht Lelio einen verhängnisvollen Fehler. Statt diese Szene aus Marinas Perspektive zu erzählen und uns als Zuschauer_innen in ihre Position des angestarrten Objekts zu versetzen, entblößt er seine Heldin doppelt, indem er ihren halbnackten Körper auch unseren Blicken aussetzt. Gen Ende des Films zeigt er Marina dann ein weiteres Mal nackt, diesmal deutlich würdevoller, aber dennoch sichtbar für unsere Augen ausgestellt, die sich nun davon überzeugen dürfen, dass sie ja „ganz normal“ aussieht. In ihren Schritt gucken dürfen wir jedoch nicht. Dort liegt ein Spiegel, in dem Marina ihr Gesicht betrachtet. Was uns dieser bedeutungsschwangere Moment sagen möchte, erschließt sich mir übrigens nur ansatzweise. Ist die Person Marina identisch mit ihrem Geschlecht oder gerade nicht?

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Mein zweiter Kritikpunkt dieser im Großen und Ganzen doch gelungenen Bearbeitung des Themas Trans*identität ist die anhaltende Tragik der Geschichte. Marina gerät von einer diskriminierenden Situation in die nächste, erfährt Erniedrigung und Gewalt. Damit führt uns Sebastián Lelio zwar die harte Realität von Trans*menschen vor Augen, inszeniert seine Heldin allerdings auch durchgehend als Opfer und schenkt ihr kaum Möglichkeiten zur Selbstermächtigung. Sein Ende immerhin bringt in dieser Hinsicht eine Wende, wenn auch hier vom Optimismus und der Lebensfreude Glorias jede Spur fehlt.

Damit ist Una mujer fantástica ein gutes Beispiel für einen viel größeren Diskurs, der nicht nur über das Thema Trans*, sondern auch über Oberbegriff „Gender“ weit hinausgeht, sich ausweitet auf so ziemlich jede von sozialer Marginalisierung betroffene Gruppe von Menschen: Bei allen gut gemeinten Offenlegungen von Unterdrückung und Diskriminierung brauchen wir eben auch Geschichten über glückliche und erfolgreiche Trans*menschen, Frauen*, Muslim_innen und Menschen mit Behinderung, Geschichten, in denen diese Begriffe nicht definitorisch funktionieren, nicht den Handlungsverlauf bestimmen, sondern nur eines von zahlreichen Persönlichkeitsmerkmalen einer Figur darstellen, Filme, in denen es kein „normal“ und „anders“ mehr gibt, sondern nur noch ein menschlich.

Sophie Charlotte Rieger
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