Berlinale 2016: Lotte

Lotte (Karin Hanczewski) ist all das, was Frau* nicht sein soll. Asozial, verantwortungslos, rüpelhaft, derb. Eine eigene Wohnung hat sie nicht, stattdessen schmarotzt sie sich durchs Leben. Irgendwer wird ihr schon kostenfreie Logis anbieten. Und irgendwie klappt es auch immer. Irgendwie kommt Lotte trotz übermäßigen Alkoholkonsums und Alltagschaos durchs Leben. Dabei nimmt sie ihren Job als Krankenschwester nicht sonderlich ernst. Denn sie weiß, dass Alkoholsucht kein Kündigungsgrund sein darf und bläst den Kollegen schamlos ihre Fahne ins Gesicht. Aber dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Eine junge Frau* namens Greta (Zita Aretz) tritt in Lottes Leben. Und Greta ist nicht einfach irgendwer: Sie ist Lottes Tochter.

© Martin Neumeyer

© Martin Neumeyer

Eine Frauen*figur wie Lotte bekommen wir äußerst selten zu sehen. Der Part mit der Verantwortungslosigkeit und fehlenden Elternqualität ist meist männlich* besetzt. Schlechte Mütter oder Frauen*, die gar keine Mütter sein wollen, sind nahezu ein Tabu (und das übrigens nicht nur im Film). Dabei gibt es natürlich ebenso viele schlechte Mütter wie schlechte Väter. Und noch viel wichtiger: Es darf auch schlechte Mütter geben!

Vielleicht schießt Regisseur Julius Schultheiß mit seiner Charakterzeichnung ein wenig über das Ziel hinaus, wenn er Lotte und Greta bei exzessiven Diskoausflügen zeigt und die Mutter ihre Tochter nicht nur zum Drogenkonsum, sondern auch zu anonymem Sex auf Clubtoiletten motiviert. An dieser Stelle ist die Verantwortungslosigkeit Lottes für ihr Kind nicht mehr unterhaltsam absonderlich, sondern Anlass zur Sorge. Während wir zunächst darüber schmunzeln, dass Lotta Greta Saufen, Qualmen und Rülpsen beibringt, ahnen wir spätestens beim Clubbesuch eine Eskalation.

Das Besondere aber an diesem Film ist, dass Lotte trotz all ihrer Verfehlungen niemals unsympathisch oder psychotisch wirkt. Nonkonforme Frauen in Film und Fernsehen sind oft und gerne hysterisch und alles andere als respekteinflößend gezeichnet. Lotte aber besticht durch ihre Charakterstärke. Sie ist nicht unzurechnungsfähig. Ja, vielleicht etwas exzentrisch, aber doch Herrin ihrer Sinne. Sie braucht keine_n Retter_in, der_die sie eines Besseren belehrt und auf den „richtigen“ Weg, also den einer guten Mutter, zurückführt.

© Martin Neumeyer

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Aber Lotte darf sich umentscheiden und es gehört zu den größten Stärken des Films, dass er diesen Wendepunkt in leisen Tönen erzählt. Es wäre allzu einfach gewesen, aus Lottes fragwürdigen Erziehungsmethoden ein großes Drama zu konstruieren. Alkoholvergiftung, Vergewaltigung, Überdosis… Möglichkeiten bietet die Geschichte zu Genüge. Julius Schultheiß aber entscheidet sich für eine unspektakuläre und damit glaubwürdige Entwicklung seiner Hauptfigur. Lotte macht keine 180 Grad Wendung. Es gibt keinen dramatischen Schlüsselmoment, der sie zu einem neuen (= besseren) Menschen macht, sondern einen Prozess der Bewusstwerdung und Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte, der am Ende des Films gerade erst begonnen hat.

Schultheiß verurteilt seine Heldin nicht. Die Entscheidung gegen ihr Kind und für ein chaotisches, freies, ja anarchisches Leben bleibt im Grunde unkommentiert. Lottes Verhalten hat mit Sicherheit keine Vorbildfunktion, aber muss es das denn überhaupt?

Lotte ist erfrischend. Ein kurzgehaltener und direkter Film mit einer grandiosen Hauptdarstellerin. Es ist auch Karin Hanczewski zu verdanken, dass Lotte von Anfang bis Ende eine sympathische Figur bleibt, mit der das Publikum mitfühlen kann und will. Ihre rotzfreche Energie trägt die Geschichte, verleiht dem Film Kraft und zugleich Leichtigkeit.

Dass Lotte das Werk eines jungen Nachwuchsregisseurs darstellt, macht Hoffnung, dass die nachwachsende Generation von Filmemacher_innen mehr Mut beweist, von Stereotypen abzuweichen, Tabus zu brechen und in dieser Hinsicht festgefahrene Wege zu verlassen. Kurzum: Lotte macht Hoffnung, dass die Zukunft des Kinos emanzipatorisch wertvoll ist.

Sophie Charlotte Rieger
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