Berlinale 2016: Ein Tag im Patriarchat

Weil der Tag einfach nicht genug Stunden hat, um vier Filme zu sehen und diese dann auch noch ausführlich zu besprechen, habe ich mich diesmal für eine andere Form der Berichterstattung entschieden: das Festival-Tagebuch. Und der heutige Bericht trägt den Titel: „Ein Tag im Patriarchat“, denn völlig ungeplanter Weise zog sich der Kampf gegen restriktive patriarchale Strukturen – in diesem Fall ausschließlich im arabischen Sprachraum – wie ein roter Faden durch meinen Berlinale-Tag.

© NOMADIS IMAGES-LES FILMS DU FLEUVE–TANIT FILMS

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Ein Mann* in der Krise

Die erste Pressevorführung des heutigen Tages, Inhebbek Hedi (Hedi), war das Paradebeispiel für die Probleme des Berlinale-Programms: Ein langatmiges, plattes Sozialdrama über einen Mann in der Krise, das seinem vermeintlich gesellschaftskritischen Thema nicht gerecht wird. Und ich habe es im Berlinalekontext so satt, Filme über Männer in irgendwelchen Identitätskrisen zu sehen. Insbesondere, wenn es wie hier um einen Jüngling geht, der ach so schrecklich unter dem engen Korsett seiner konservativen tunesischen Familie leidet. Hauptfigur Hedi soll nämlich verheiratet werden, ganz so wie es sich gehört. Aber dann verliebt er sich auf einer Geschäftsreise in eine Animateurin. Welch Drama!

Zugegeben: Es ist ein lobenswerter Ansatz, die Kritik an konservativen Gesellschaftsstrukturen im islamisch-arabischen Raum anhand einer Männer*figur zu erzählen. Denn des Patriarchat ist tatsächlich zu allen Menschen ungerecht, weil es jede_n, auch Männer*, in eine Rolle zwängt. Dennoch sind die Frauen* auf Grund fehlender Privilegien von diesen Strukturen viel stärker betroffen, sind es doch die Männer*, denen es obliegt, neue Gesetze und Moralvorstellungen zu etablieren. Umso enttäuschender, dass Inhebbek Hedi (Hedi) statt komplexer weiblicher* Charaktere nur Abziehbilder zu bieten hat: die treusorgende aber erzkonservative Mutter, die total süße und unschuldige Braut und der freiheitsliebende Wirbelwind mit den frechen Locken. Kein Wunder, dass dieses Drama nicht mitreißt oder berührt. Nicht nur weil der diffus melancholisch-leidende Held einfach keine Sympathiepunkte sammeln kann, sondern auch, weil durch die eindimensionalen Nebencharaktere die gesamte Beziehungsgeschichte unglaubwürdig bleibt.

© Vered Adir

© Vered Adir

Wie Frau es besser macht

Ich springe aus thematischen Gründen jetzt gleich zum letzten Film dieses Berlinale-Tages, Sufat Chol (Sand Storm). Auch hier geht es um die kritische Auseinandersetzung mit konservativen, islamischen Traditionen einer arabischsprechenden Gemeinschaft, genauer gesagt um ein Beduinendorf in der südisraelischen Wüste. Regisseurin Elite Zexer jedoch erzählt ihre Geschichte aus der Sicht der Frauen*.

Teenager Layla darf ihren Schulabschluss machen und lernt von ihrem Vater Sulimann sogar das Autofahren. Sie glaubt sich frei und von ihren Eltern unterstützt. Als jedoch ihre heimliche Liebe zu einem Jungen aus der Stadt auffliegt, kommt es zum Eklat. Niemand hat für Layla Verständnis. Mutter Jalila ist viel zu sehr mit ihrer Eifersucht gegenüber Sulimanns Zweitfrau beschäftigt und Suliman selbst fürchtet um sein Ansehen im Dorf und sieht nur einen Ausweg: Layla soll verheiratet werden.

Elite Zexer zeigt Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit ihren Traditionen ringen. Nicht nur Jalila, Layla und ihre Schwestern leiden unter den restriktiven Moralvorstellungen ihrer Kultur. Auch Sulimann wiederholt mantrisch den Satz „I didn’t have a choice.“ Spätestens als Jalila ihm ein wütendes „Be a man for a change!“ entgegenschmettert, offenbart sich die Stärke der Frauen*. Obwohl sie in ihrer Gesellschaft in Entrechtung und Unterdrückung leben, fordern sie das System wiederholt heraus und beweisen damit deutlich mehr Mut als die privilegierten Männer*, die Missstände zwar sehen, aber schulterzuckend hinnehmen – selbst, wenn es sich um die eigene Tochter handelt.

In vielerlei Hinsicht erinnert Sufat Chol (Sand Storm) an Mustang, der ebenfalls vom Ausbruch mehrerer Schwestern aus dem Gefängnis des Patriarchats erzählt. Doch Elite Zexer ist schonungsloser, vielleicht ehrlicher. Sie zeigt nicht nur den Freiheitsdrang, sondern auch den Schmerz beim Abschied an das Vertraute, die Hürden auf dem Weg zur eigenen Emanzipation. Denn diese, das führt uns Sufat Chol (Sand Storm) eindrücklich und ergreifend vor Augen, ist ein Prozess über mehrere Generationen hinweg, der nur gemeinsam gewonnen werden kann.

Wo Inhebbek Hedi (Hedi) langweilt, reißt Sufat Chol (Sand Storm) mit. Die Figuren laden zur Identifikation ein und sind stets so komplex, dass sie sich nicht in gut und böse aufteilen lassen. Auch Sulimann ist nicht die diabolische Verkörperung des Patriarchats, sondern ein Mann mit Stärken und Schwächen. Damit kann dieser Film sein Publikum herausfordern und echte Sozialkritik üben, anstatt wirkungslos Klischees wiederzukäuen.

Wieso aber läuft Inhebbek Hedi (Hedi) im Wettbewerb und Sufat Chol (Sand Storm) im Panorama? Könnte das etwa mit dem sozialen Geschlecht der Regisseurin zu tun haben? Vielleicht sollte sich die ach so sozialkritische Berlinale mal an die eigene Nase fassen…

© Orjouane Productions

© Orjouane Productions

Sklaverei mal anders

Kurz möchte ich noch auf Makhdoumin (A Maid for Each) eingehen, in dem Maher Abi Samra den Handel mit ausländischen Hausangestellten im Libanon dokumentiert. Und ja, es geht tatsächlich um Handel – um Menschenhandel. Die jungen Frauen kommen zum Beispiel aus Äthiopien oder von den Philippinen, werden von Agenturen in den Libanon und dort durch weitere Agenturen an die neuen Eigentümer vermittelt, Umtauschrecht inklusive. Dahinter steht ein haarsträubend komplexes System. Der Handel mit Haushaltshilfen ist eine Industrie, ein Wirtschaftsfaktor.

Die Menschen, ausschließlich Frauen, sind nur noch Ware. In der Rangordnung der Familie stehen sie ganz unten, besitzen keinerlei Rechte. Wenn sie Essen bekommen und nicht geschlagen werden, hätten sie nichts zu meckern. So sieht das zumindest der portraitiert Agentur-Inhaber.

Wie kommt es, fragte ich mich während des Films, dass sich ausgerechnet muslimische Frauen im Libanon, denen Unterdrückung und Benachteiligung wenn schon nicht aus eigener Erfahrung so doch insgesamt bekannt sein sollte, aus vollster Überzeugung nach unten austreten? Die Antwort ist einfach und schließt an die beiden oben genannten Spielfilme an: In einer durch Macht und Unterdrückung charakterisierten Gesellschaftsform wie dem Patriarchat, die eng mit kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen verknüpft ist, führt der divergierende Wert einzelner Personen zur Verdinglichung des Menschen. Nur in einem System, das auf der ungleichen Verteilung von (Lebens)Rechten basiert, können Menschen zur Ware werden.

Diese Zusammenhänge haben übrigens rein gar nichts mit dem Islam an sich zu tun. Wir finden sie genauso in unser eigenen, auf christlichen Werten beruhenden Gesellschaft. Und deshalb sollte uns Makhdoumin (A Maid for Each) nicht nur aus der Distanz schockieren, sondern auch zum Nachdenken über uns selbst anregen!

Nachsatz

Falls jemand wissen möchte, wie Midnight Special war, hier kurz und schmerzlos ein paar Worte: Ein Film, den ich gerne „gut“ nennen würde, wenn er nur EINER einzigen weiblichen* Figur Bedeutung beimessen würde… *seufz*

Sophie Charlotte Rieger
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