Berlinale 2016: 24 Wochen

Das Thema Abtreibung spaltet immer noch die Gemüter. Auch im Jahre 2016. Oder besser gesagt: Das Thema Abtreibung spaltet wieder die Gemüter, denn die Pränataldiagnostik gibt plötzlich neue Anlässe, am Leben eines ungeborenen Kindes zu zweifeln. So ist die Spätabtreibung von lebensfähigen Föten unter bestimmten medizinischen Voraussetzungen heute legal und wie der Film 24 Wochen verrät auch eine gängige Vorgehensweise. 90% aller Mütter, die in eine vergleichbare Situation geraten wie die Heldin des Films, entscheiden sich für den Abbruch. Doch kaum eine spricht darüber.

Astrid Lorenz (Julia Jentsch), erfolgreiche Komikerin und Mutter einer 9 jährigen Tochter, ist mit ihrem zweiten Kind schwanger. Als die Vorsorgeuntersuchungen auf ein Trisomy 21 Syndrom hindeuten, kommen erste Zweifel auf: Können Astrid und ihr Lebensgefährte und Manager Markus (Bjarne Mädel) dieser Situation gerecht werden? Lässt sich Astrids Beruf mit der Betreuung eines Kindes mit Behinderung vereinbaren? Als die kleine Familie gerade entschieden hat, sich dieser besonderen Herausforderung zu stellen, bringen neue Erkenntnisse über das ungeborene Kind wieder alles ins Wanken. Astrids Sohn hat nicht nur ein zusätzliches Chromosom, sondern auch einen schweren Herzfehler, der sein Leben vom ersten Atemzug an stark beeinträchtigen wird. Was nun?

© Friede Clausz

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Regisseurin Anne Zohra Berrached begleitet ihre Heldin durch alle Höhen und Tiefen der Schwangerschaft. Mit einem immens natürlichen Schauspiel, großartiger Regieführung der Kinderdarstellerin Emilia Pieske und einer sehr bewusst eingesetzten, den Figuren stets besonders nahen Handkamera, baut Berrached eine Brücke zwischen Astrid und den Zuschauer_innen. Immer wieder durchbricht die Regisseurin die vierte Wand, lässt Astrid direkt ins Publikum blicken, um dieses zu einer Positionierung herauszufordern. 24 Wochen will bewegen und zum Nachdenken anregen. Dieser Film soll niemanden kalt lassen. Und das Schniefen und Taschentuchrascheln während der Berlinale Pressevorführung deutet daraufhin, dass Anne Zohra Berrached genau das gelungen ist.

Der Zugang zu Astrid und ihrer Geschichte wird den Zuschauer_innen auch durch die respektvolle Inszenierung erleichtert. Das Publikum findet sich nicht in der Rolle von Elendsvoyeurist_innen wider, die sich am Leid anderer ergötzen. Berrached gönnt ihren Figuren immer wieder private Momente und vertraut darauf, dass ihre Zuschauer_innen diese Handlungslücken eigenständig füllen können. So überlässt die Regisseurin beispielsweise die Szenen, in denen Astrid und ihr Partner über die Untersuchungsergebnisse informiert werden, stets der Imagination des Publikums. Es geht 24 Wochen eben nicht um einen dramatischen Druck auf die Tränendrüse, sondern um die Darstellung eines schweren inneren Konflikts. Und es ist keine artifizielle dramatische Konstruktion, die schließlich zu Tränen rührt, sondern Astrids Schmerz, den Hauptdarstellerin Julia Jentsch durch ihr intensives Schauspiel erfahrbar macht.

© Friede Clausz

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Die Sympathie für die Hauptfigur ist hinsichtlich des Themas von großer Bedeutung. Anne Zohra Berrached bezieht hier eindeutig Stellung für die Spätabtreibung. Aber Achtung: Der Film formuliert zwar durch die schrittweise Diagnose die drängende Frage, bis wann ein Leben lebenswert sei und wer darüber entscheiden dürfe, lässt diese Fragen aber unbeantwortet. An keiner Stelle postuliert 24 Wochen den leichtfertigen Umgang mit Abtreibungen und an keiner Stelle stellt der Film das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung in Frage. Berracheds Thema ist ein anderes.

Die Frage über die Legitimität von Abtreibung beantwortet 24 Wochen nicht in Hinblick auf das ungeborene Kind, sondern in Hinblick auf die Mutter, die voll im Leben steht. Der Film unterstreicht, dass die Gründe für Astrids Entscheidung zweitrangig sind. Was zählt ist die Selbstbestimmung über ihren Körper und ihr Leben. Es ist egal, warum sich die junge Frau überfordert fühlt. Sie tut es einfach. Und jede Entscheidung ihr Leben betreffend ist ganz allein ihre Sache.

Dabei ist sich der Film der Bedeutung seines Diskurses durchaus bewusst und verhandelt das Thema Spätabtreibung in verschiedenen Dialogen aus immer neuen Perspektiven. Der lange Prozess der Entscheidungsfindung, den 24 Wochen hier nachzeichnet, verdeutlicht die Komplexität der Entscheidung. Anne Zohra Berrached postuliert keinen leichtfertigen Umgang mit ungeborenem Leben. Stattdessen zeigt sie den ungeheuren Schmerz, der mit einem Spätabbruch verbunden ist. Das ist für die Zuschauer_innen insbesondere gen Ende schwer zu ertragen. Doch 24 Wochen will und muss uns quälen, um deutlich zu machen: Niemand treibt „einfach so“ ein Kind ab, das sich bereits im Bauch bewegt und zu spüren ist, und das im Ultraschall wie ein ganzer, kleiner Mensch aussieht.

© Friede Clausz

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Die letzten fünfzehn Minuten des Films sind nicht nur für Astrid, sondern auch für die Zuschauer eine Qual. Aber die Dramatik der Situation erfüllt mehr als nur einen Selbstzweck: Sie schafft Respekt für die Frau auf der Leinwand. 24 Wochen ist schonungslos. Schonungslos in der Darstellung von Astrids Schmerz, aber auch schonungslos hinsichtlich ihrer Positionierung. Es geht nicht (nur) um das beeinträchtigte Leben des Kindes, es geht auch um Astrids beeinträchtigtes Leben. Ihre Entscheidung ist nicht selbstlos und ja, sie denkt dabei an sich, an ihren Beruf, an ihre Ehe und die Tochter. Und – da lässt 24 Wochen keinen Zweifel zu – das ist vollkommen in Ordnung! Der Film endet mit einem weißen Vollbild und weiß unterlegten Endtiteln, mit einem Moment der Hoffnung also: Der Embryo ist verstorben, aber Astrids Leben geht weiter. Und darauf kommt es an.

Anne Zohra Berrached besitzt den Mut, sich eines besonders heiklen Themas unserer Zeit anzunehmen. Aber nicht nur das: Sie besitzt auch die Empathie sowie die fachliche Kompetenz des Regiehandwerks, um dieses Thema in all seiner Komplexität nachvollziehbar, vor allem aber „nachfühlbar“ auf die Leinwand zu bringen. Damit schafft sie intensives und beeindruckendes Kino, das seinen Platz im Berlinale Wettbewerb 2016 mehr als verdient hat.

Kinostart: 22. Oktober 2016

Sophie Charlotte Rieger
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