Alice und das Meer

Dass Frauen* inzwischen „Männer*berufe“ ausüben können, ist nur ein partieller Erfolg und löst mitnichten von einem auf den anderen Tag strukturelle Sexismusprobleme einer Gesellschaft. Es reicht nicht aus, dass eine Frau* für eine Tätigkeit ebenso gut qualifiziert ist wie ihr männlicher* Kollege. Es ist auch nicht genug, endlich die Mär abzulegen, Frauen* seien durch potentielle Mutterschaft die weniger zuverlässigen Angestellten. All das sind kleine Bausteine, doch so lange die darunter liegende Struktur noch immer eine sexistische ist, können sie sich zu keinem neuen Gesellschaftsbild zusammensetzen.

© FilmKino Text

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So oder so ähnlich ließe sich Lucie Borleteau’s Spielfilmdebut Alice und das Meer zusammenfassen. Auf einem Containerschiff entwirft die französische Regisseurin einen gesellschaftlichen Mikrokosmos, in dem sich Hauptfigur Alice (Ariane Labed) auf verschiedenen Ebenen behaupten muss. Als Schiffsmechanikerin ist sie nicht nur die einzige Frau an Bord, sondern übt auch einen klassischen Männer*beruf aus. Dabei lassen weder der Film noch ihre Kollegen jemals Zweifel daran aufkommen, dass sie dieser Aufgabe gewachsen sei. Ihre Qualifikation ist nicht das Problem, sondern ihre Sexualität.

Zunächst kann sich Alice in die Besatzung ihres Frachters gut einfügen. Als klassische Kumpeline lacht sie sowohl über derbe wie auch frauen*feindliche Sprüche und hat zum Thema Treue dieselbe Meinung wie ihre Kollegen, die – wie es das Klischee des Seemannes* es erfordert – kaum im Hafen schon eine Frau* an ihrer Seite und im Bett haben. In der Theorie darf Alice hier locker mitziehen. Doch spätestens als ihr zum Geburtstag ein Sexarbeiter geschenkt wird, droht der Praxistest, den die Schiffsgesellschaft nicht bestehen kann und die ersten misstrauischen Blicke, die nonverbale Bände sprechen, lassen nicht lange auf sich warten.

Nun will es der Zufall oder viel mehr Borleteaus Drehbuch zudem so, dass Alice auf dem Schiff ihre erste große Liebe Gäel (Melvil Poupaud) wiedertrifft, der sich inzwischen zu einem attraktiven und verführerischen Kapitän entwickelt hat. Und während ihr norwegischer Lebensgefährte Felix (Anders Danielsen Lie) daheim in Frankreich auf sie wartet, lässt sich Alice auf eine folgenschwere Affäre ein, die alles aus dem Ruder laufen lässt.

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Sexualität steht im Zentrum von Alice und das Meer, jedoch nicht im pornographischen, sondern in einem soziologischen Sinne. Im Mikrokosmus der Schiffsbesatzung nimmt Lucie Borleteau eine Studie menschlichen Verhaltens vor. Alices Integration in die Männergesellschaft erweist sich an exakt jenem Punkt als problematisch, da sie als sexuelles Wesen in Erscheinung tritt, sich also von der eher geschlechtsneutralen oder gar männlichen* Verkörperung der Kumpeline löst und damit zu einem potentiellen Objekt der Begierde wird. Zum Teil geschieht dies unfreiwillig, nämlich durch die sexuelle Belästigung eines Vorgesetzten, gegen die sich Alice jedoch vorbildlich zu wehren weiß. Als die Männer sie aber zusammen mit dem Sexarbeiter in die Kajüte verschwinden sehen, in der im Übrigen gar nichts Sexuelles geschieht, beginnt sich die bisherige gesellschaftliche Ordnung zu verändern. Aus dem zaghaften Flirt mit Gäel wird eine Affäre, die ihr spätestens mit der Beförderung zur Chefmechanikerin das Misstrauen der anderen einbringt. Final jedoch befördert sie sich selbst ins Abseits, als sie mit einem der Kadetten in die Kiste springt.

Wenig später beobachtet Alice durch ein Kajütenfenster, wie ihre Kollegen gemeinsam einen Porno ansehen – eine Schlüsselszene, die das Paradox der weiblichen Sexualität in unserer Gesellschaft veranschaulicht: Alice muss als aktives sexuelles Subjekt draußen bleiben, während Frauen in der Rolle allzeit verfügbarer, sexueller Objekte einen Platz in dieser Männer*gesellschaft sicher haben.

Manchmal wirkt es, als würde Lucie Borleteau ihre Heldin für deren freie Sexualität abstrafen, scheint doch die Affäre mit Gäel eine Pechsträhne für die gesamte Besatzung nach sich zu ziehen. Zugleich aber ist Borleteaus Inszenierung von Alices Sexualität stets eine betont positive, selbstbestimmte und vor allem niemals eine voyeuristisch ausgestellte. Wir als Zuschauer_innen haben niemals Anlass ihre Liebe zu Felix anzuzweifeln, sondern erleben mit Alice gemeinsam die frustrierende Erkenntnis, dass sie zwar denselben Job wie ein Mann* machen darf, deshalb für sie aber noch lange nicht die selben Regeln gelten.

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Die gesellschaftliche Tendenz, insbesondere beim Thema Sexualität mit zweierlei Maß zu messen, betont Lucie Borleteau auch durch die Geschichte von Alices verstorbenem Vorgänger, in dessen Kajüte die junge Ingenieurin wohnt und dessen Tagebuch sie studiert. So wie sie, beschäftigte sich auch der Verstorbene mit den Frage nach Liebe und Sexualität, wurde von seinen Kollegen dabei jedoch vollkommen anders wahrgenommen. Männer* und Frauen* können den gleich Job machen, aber das macht sie auch im Jahr 2016 noch lange nicht tatsächlich gleich.

Diese Gesellschaftskritik an unserer patriarchalen Gegenwart verabreicht Lucie Borleteau glücklicher Weise nicht mit dem Holzhammer. Im Gegenteil ist Alice und das Meer ein ruhiger Film mit einer ausgesprochen unaufgeregten Dramaturgie, der es nicht um Spannung und Dramatik, sondern um Reflektion geht – auf Seiten der Held_innen aber auch des Publikums. Und so ist es nur konsequent, Alice wie auch die Zuschauer_innen schließlich in eine ungewisse Zukunft zu entlassen. Aber nicht mit leeren Händen, denn Alice wie auch wir sind auf dieser kleinen Schiffreise ein großes Stück schlauer geworden.

Kinostart: 22. September 2016

Sophie Charlotte Rieger
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